Das Wintersportdorf in Tirol war bekannt für seine Partys. Dann wurde es zur Drehscheibe des Corona-Virus – aus Skrupellosigkeit und Gier. Ein Reporterteam hat den Fall rekonstruiert.
Aus: Der Spiegel am 27.03.2020
„Home of Wahnsinn“
Von Jürgen Dahlkamp, Hauke Goos, Roman Höfner, Felix Hutt, Gunther Latsch, Timo Lehmann, Walter Mayr, Max Polonyi und Jonathan Stock.
Ischgl in Tirol ist ein Bergdorf im Paznauntal auf 1377 Meter Höhe. Es gibt hier eine Pfarrkirche und eine Totenkapelle, rund 1600 Einwohner und 11.800 Gästebetten, 239 Kilometer Skipisten, 1000 Schneekanonen, 45 Liftanlagen. Es gibt die Disco „Kuhstall“ und die Après-Ski-Bar „Kitzloch“. In Ischgl kann man Ski fahren und bei Jägermeister-Red Bull die Nacht durchfeiern. Ischgl ist eine Marke wie Ibiza, Sylt oder das Oktoberfest. Millionen Touristen treffen sich hier jedes Jahr. Sie kommen aus Dublin, Reykjavík, Kopenhagen und Helsinki, aus Bayern, Hamburg und Neuss. Die Tourismusindustrie im Tal setzt im Jahr 250 Millionen Euro um.
Dass die halbe Welt nach Ischgl reist, hat den Ort verändert. Doch in den vergangenen Wochen hat vor allem Ischgl die Welt verändert. In nur 14 Tagen hat sich der Ort in Österreich zu einer europäischen Drehscheibe des Coronavirus entwickelt. Wie das geschehen konnte, zeigen die Einsicht in vertrauliche Dokumente, Gespräche mit Verantwortlichen von Ischgl bis Island und die Geschichten von Touristen, die hier von ihren Tagen in Ischgl erzählen.
Samstag, 29. Februar
Am Dubliner Flughafen wartet Ryanair-Flug FR2412 nach Memmingen auf die Starterlaubnis. An Bord der Maschine sitzt John Cormack mit vier Freunden, sie freuen sich auf ihren jährlichen Männerurlaub. Cormack kommt aus Cork, seine Freunde aus Nachbarstädten im Südwesten Irlands. Mit dem Mietwagen wollen sie von Memmingen aus weiter nach Ischgl fahren.
Cormack ist 56 Jahre alt, er hat vier erwachsene Söhne. Skifahren hat er Anfang der Neunzigerjahre gelernt. Es ist sein sechster Besuch in Ischgl. Was er an dem Tiroler Ferienort schätzt? „Schneesicherheit, eine tolle Pistenauswahl und super Après-Ski.“
Als Ryanair-Flug FR2412 abhebt, ist in Irland kein einziger Corona-Fall bekannt.
Österreich meldet 5 Infizierte, 2 aus Tirol, Deutschland 57. Dänemark weiß von 2 Infizierten, Schweden von 12, Norwegen von 6. In Island wurde am Vortag der erste Corona-Fall bestätigt, ein Urlauber, der aus Italien zurückgekehrt war.
Als Cormack und seine Freunde Ischgl erreichen, checken sie ein, ziehen sich um und gehen in „Nikis Stadl“, eine der Bars an der Dorfstraße, Ischgls Feiermeile.
Um 15 Uhr beginnt hier jeden Tag der Après-Spaß, viele Gäste kommen direkt von der Piste, die meisten haben oben auf den Hütten schon getrunken.
Cormack und seine Freunde kämpfen sich durch die Menge an die Bar. Vorbei an deutschen Urlaubern, die über den 6:0-Sieg der Bayern in Hoffenheim diskutieren, weil einige Bayern-Fans Hoffenheims Mäzen Dietmar Hopp als „Hurensohn“ beschimpft haben und die Begegnung vor dem Abbruch gestanden hatte.
Es ist eng und laut. Der DJ spielt „Hey, wir woll’n die Eisbärn sehn“ von den Puhdys. Cormack hat das Lied inzwischen so oft gehört, dass er es mitsingen kann. Ischgl sei ein „ehrlicher Deal“, sagt er, man wisse, was man hier bekomme.
An diesem Samstag landet auf dem isländischen Flughafen Keflavík eine Maschine der Icelandair. Flug FI533 ist in München gestartet, unter den Passagieren sind auch isländische Touristen, die in Ischgl waren. Seit bekannt wurde, dass sich der Italienrückkehrer mit dem neuartigen Coronavirus infiziert hat, gilt in Island der nationale Notstand. Eine unkontrollierte Epidemie hätte auf der kleinen Atlantikinsel katastrophale Folgen.
Nach der Ankunft meldet sich einer der Ischgl-Rückkehrer mit Symptomen. Er wird getestet und gebeten, sich in Quarantäne zu begeben. Über die Passagierliste werden die Reisenden ermittelt, die in seiner Nähe saßen, man testet sie und fordert auch sie auf, zu Hause zu bleiben.
Die Deutsche Presse-Agentur dpa meldet an diesem Tag: „Behörden rüsten sich weltweit“, die österreichische „Kronenzeitung“ hat die Schlagzeile „Corona-Alarm: Vier Kindergartenkinder infiziert“.
Sonntag, 1. März
Erneut landet ein Flugzeug aus München in Island, wieder sind Ischgl-Urlauber unter den Passagieren. Wieder werden einige getestet. Island hat inzwischen drei Infizierte, alle waren in Skigebieten in den italienischen Alpen.
Torolfur Gudnason, Islands Chef-Epidemiologe, vermutet inzwischen, dass auch Österreich ein Hotspot sein könnte.
Gudnason ist 66 Jahre alt, studierter Kinderarzt und Infektiologe, der Fußball liebt und Bass in einer Band spielt. Seitdem Anfang Januar die ersten Corona-Meldungen aus China kamen, ist es seine Aufgabe, die Ausbreitung der Seuche zu verhindern. Jeden Tag hält Gudnason in Reykjavík eine Pressekonferenz ab. Sie wird live im Fernsehen übertragen.
Damit alle EU-Länder so früh wie möglich auf die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten hingewiesen werden, wurde 1998 das Frühwarnsystem EWRS (Early Warning and Response System) eingerichtet. Gudnason leitet die isländischen Corona-Fälle an seine europäischen Kollegen weiter.
Der Fernsehsender CNN meldet den ersten Corona-Toten der USA. Irland hat den ersten Infizierten, Österreich 14, Deutschland 130.
Montag, 2. März
Die Weltgesundheitsorganisation WHO gibt bekannt, dass weltweit schon mehr als 3000 Menschen durch Corona gestorben sind. In Ischgl geht der Betrieb weiter.
Die Männer, die aus einem Bergbauerndorf das „Ibiza der Alpen“ machten, waren Wirte, Skilehrer oder Volksschuldirektoren – bodenständig, gläubig und ausgestattet mit bäuerlichem Erwerbssinn. Die Nachfahren der Gründerfamilien Parth, Kurz, Zangerl und Aloys entscheiden heute über die Zukunft des Ortes. Günther Aloys, der Sohn des Lift-Pioniers Erwin Aloys, besitzt das luxuriöse Designhotel „Madlein“ und das „Elizabeth Arthotel“. Er holte Bob Dylan für ein Konzert und gewann Paris Hilton als Werbeträgerin für seinen Dosenprosecco. Vor ein paar Jahren ließ er 400 Kühe mit Motiven von Warhol und Picasso bemalen – ein Projekt, das am Ende nicht am Geld, sondern am Fell der Tiere scheiterte.
Am Silvrettaplatz, im Zentrum Ischgls, steht in diesen Tagen eine meterhohe Skibrille, auf deren Glasvisier vier Worte geklebt worden sind: „Relax. If you can …“
Dienstag, 3. März
Der amerikanische Sender CNBC berichtet, dass die Sterberate des neuen Virus laut WHO weltweit 3,4 Prozent betrage. Sie sei höher als bisher angenommen.
John Cormack und seine vier Freunde kämpfen sich in Ischgl durch die Bars und singen Schlager mit, deren Texte sie nicht verstehen. Torolfur Gudnason meldet über das Frühwarnsystem EWRS, dass es in Island inzwischen 16 Corona-Fälle gibt. Alle 16 haben sich in Skigebieten infiziert: im italienischen Trentino, aber auch in Österreich.
Mittwoch, 4. März
Italien ordnet die Schließung aller Schulen und Universitäten an. Deutschland meldet den 262. Corona-Kranken. In Reykjavík bekommt Gudnason die Testergebnisse der Touristen aus der München-Maschine. Gudnason schreibt zwei Nachrichten ins EWRS-System, in denen er das sogenannte Cluster Ischgl benennt. Die eine Nachricht geht an alle Mitglieder, die zweite direkt an die österreichischen Behörden. In Island, schreibt er um 23.55 Uhr, gebe es mittlerweile 26 Corona-Fälle, von denen 8 auf Ischgl zurückzuführen seien. Schon einen Tag später wird ihre Zahl auf 14 steigen, am Ende werden es 21 isländische Urlauber sein, die sich in Ischgl angesteckt haben.
In seiner Pressekonferenz erklärt Gudnason Ischgl zum Hochrisikogebiet.
Mit der Nachricht an das europäische Frühwarnsystem ist auch das Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin informiert. Die Deutschen stellen unter den Urlaubsgästen in Tirol die größte Gruppe.
Auf der Website des RKI findet sich kein Hinweis, keine Warnung, nichts.
Donnerstag, 5. März
Um 0.32 Uhr setzt das Sozialministerium in Wien die Tiroler Gesundheitsbehörde über die Mail aus Reykjavík in Kenntnis.
Bernhard Benka, Allgemeinmediziner und im Sozialministerium Leiter der Abteilung Übertragbare Erkrankungen, Krisenmanagement und Seuchenbekämpfung, ist derzeit der wichtigste Mitarbeiter des grünen Gesundheitsministers Rudolf Anschober. Er reagiert sofort.
Von Benkas Einschätzung hängt viel ab. Pro Gästebett werden in Ischgl mindestens 11.000 Euro im Jahr umgesetzt, 83 Prozent des Geschäfts entfallen auf die Wintersaison. Der März ist traditionell der stärkste Monat. Im gesamten Winter 2018/19 hatte Ischgl 1,41 Millionen Übernachtungen gemeldet, allein von November 2019 bis Januar 2020 waren die Zahlen noch einmal um 3,4 Prozent gestiegen.
Benkas Leute telefonieren herum und melden sich in Reykjavík per Mail: „Liebe Kollegen, gibt es weiterführende Informationen betreffend die Patienten aus Ischgl? Wann setzten die Symptome ein, von wann bis wann haben sie wo gewohnt? Gab es besondere Kontakte mit jemandem?“
Noch am selben Tag übermitteln die Isländer die Namen der Hotels an das Sozialministerium in Wien.
Um 16.51 Uhr bekommt Dietmar Walser, Geschäftsführer des Tourismusverbands Paznaun-Ischgl, eine Mail von einer leitenden Mitarbeiterin aus dem Team von Gudnason in Reykjavík. „14 Fälle in Island mit erst kurz zurückliegenden Reisen nach Ischgl sind bestätigt.“ Und sie macht eine wichtige Ergänzung: Die Betroffenen „waren nicht Teil einer einzigen Gruppe, sie wohnten in fünf verschiedenen Hotels und hatten unseres Wissens keinen Kontakt untereinander“.
Das Virus ist in Ischgl – und es lässt sich nicht auf eine Bar, auf ein Hotel, auf einen Betrieb eingrenzen. Ischgl ist eine Brutstätte, das Geschäft einer ganzen Saison in Gefahr. Abreisende Touristen – wie die 21 Isländer – bringen das Virus von Ischgl aus in ihre Heimatländer.
Die Tragweite der Nachrichten aus Island wird in Österreich offenbar nicht verstanden. In Innsbruck erklärt Landessanitätsdirektor Franz Katzgraber an diesem Donnerstag, die isländischen Touristen hätten sich vermutlich bei einem mitreisenden, in Italien infizierten Passagier angesteckt. Es erscheine „aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen ist“.
John Cormack bekommt eine WhatsApp-Nachricht von seiner Frau. Sie habe gelesen, dass Ischgl als Hochrisikogebiet gelte, zumindest in Island.
Cormack und seine vier Freunde schalten BBC World News ein. Es geht um fallende Aktienkurse und um Italien. Von einer Gefahr für Tirol ist nicht die Rede.
Weil auch im Dorf kaum jemand über die Einschätzung der Isländer redet, gehen sie am Abend ins „Kitzloch“. Eine Gruppe Norweger ordert Kurze, ein Trupp dänischer Touristen macht es ihnen nach, Kellner bahnen sich mit Trillerpfeifen einen Weg durch die Menge.
Bundeskanzler Sebastian Kurz wird sich später in einem Fernsehinterview erinnern, dass er bereits Anfang März „von einigen ausländischen Regierungschefs außerhalb Europas gewarnt wurde“. Er habe daraufhin in Österreich „viel Druck darauf gemacht“, dass man „harte Maßnahmen“ setze.
Infizierte in Österreich: 41. Infizierte in Deutschland: 482. Das „Handelsblatt“ schreibt: „Drohende Rezession: Große Koalition arbeitet an einem Krisenpapier“.
Freitag, 6. März
Auf ihrer Website vermeldet die Boulevardzeitung „Österreich“, die Spur der erkrankten Isländer führe nach Ischgl. Die Überschrift des Artikels: „Geheim gehalten“.
Die Meldung bleibt weitgehend unbeachtet. Während die Gesundheitsbehörden Hotels kontaktieren, in denen die Isländer übernachtet haben, bereitet man sich dort wie im restlichen Paznauntal an diesem Morgen auf ein weiteres Partywochenende vor.
Die Gesundheitsexperten regen an, beim Servicepersonal der Hotels mit Corona-Tests zu beginnen, ebenso bei den Angestellten der Après-Ski-Lokale. Der Tiroler Infektionsmediziner Robert Zangerle sagt: „Après-Ski ist eine Virenschleuder.“
Auch Südtirol, auf der italienischen Alpenseite gelegen, wird vom Gesundheitsministerium nun als „potenziell gesundheitsgefährdend“ eingestuft. Nachdem der Tiroler Landeshauptmann Günther Platter für seine Skigebiete einen Rufschaden befürchtet und Zweifel äußert, korrigiert die Bundesregierung ihre Einschätzung – und hebt die Risikowarnung auf.
Samstag, 7. März
Am Samstag ist Bettenwechsel in Ischgl. Tausende Urlauber reisen ab, Tausende Urlauber reisen an.
An diesem Morgen fährt die erste Gondel um 8.30 Uhr bergwärts. 3440 Passagiere pro Stunde kann die Seilbahn hinauf in die Silvretta Arena transportieren. Das Liftgeschäft ist mit einem Jahresumsatz von gut 80 Millionen Euro das größte Schwungrad für den Tourismus im Paznauntal. Vertreter der alteingesessenen Ischgler Familien sitzen im Aufsichtsrat der Silvrettaseilbahn AG, darunter Werner Kurz, der Bürgermeister von Ischgl.
Viele der Verantwortlichen im Tiroler Tourismus sind Mitglieder der konservativen ÖVP, der Partei von Bundeskanzler Kurz. Die „Tiroler Adler Runde“, ein Zusammenschluss von 49 Unternehmern, spendet an die ÖVP und verbindet diese Unterstützung mit politischen Forderungen. Noch am 18. Februar traf sich Kurz mit Vertretern dieser Runde im Innsbrucker Grandhotel „Europa“ zu einer diskreten Besprechung.
John Cormack und seine Freunde reisen an diesem Samstag nach Irland zurück. Am Sonntag besucht Cormack mit seinen Söhnen ein Hurling-Spiel, ein Sport, der dem Hockey nicht unähnlich ist. Einer seiner Freunde fühlt sich schlecht und wird getestet. Auch die anderen aus der Ischgl-Gruppe lassen sich daraufhin testen. Nach einer knappen Woche haben sie das Ergebnis: Alle fünf haben sich in Ischgl mit dem neuartigen Coronavirus angesteckt.
Nicola Giesen reist an diesem 7. März mit ihrem Mann Thomas in Ischgl an. Sie kommen aus Neuss, 50 Kilometer von Heinsberg entfernt, seit ein paar Tagen der Corona-Hotspot Deutschlands. Sie haben sich 30 Jahre zuvor im Skiurlaub kennengelernt, ihre beiden Kinder sind inzwischen aus dem Haus. Die Giesens wollen raus aus der Corona-Panik.
Nicola Giesen hat im Internet recherchiert, auf welchen Hütten man gut essen kann. Von einer Corona-Gefahr in Ischgl hat sie nichts gelesen.
Außer den Giesens treffen zahlreiche weitere Deutsche in Ischgl ein, darunter 200 Kurzurlauber, die sich in sechs Bussen aus der Gegend um Aalen in Schwaben Richtung Tirol auf den Weg gemacht haben. Elf Tage später werden allein im schwäbischen Ostalbkreis rund um Aalen 109 Infizierte registriert.
Während die Touristen feiern, im „Kuhstall“, in der „Champagnerhütte“, in der „Schatzi-Bar“, meldet die Austria Presse Agentur (Apa) um 22.31 Uhr unter Berufung auf die Tiroler Sanitätsdirektion, ein 36 Jahre alter Norweger, der in Ischgl gearbeitet hat, sei positiv auf das Virus getestet und „umgehend isoliert“ worden.
Sonntag, 8. März
Norwegen gibt an, dass von 1198 Infektionen mit dem Coronavirus fast 500 auf Österreich zurückzuführen seien. Die meisten Patienten waren im Paznauntal gewesen. Auch die norwegische Gesundheitsbehörde FHI übermittelt nun eine Warnung ans Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) mit Sitz im schwedischen Solna. In Dänemark überlegt man noch. Drei Tage dauert es, dann wissen auch die Dänen, dass Ischgl direkt oder auf Umwegen verantwortlich ist für mehr als die Hälfte der 262 dänischen Infizierten.
Nicola Giesen und ihr Mann fahren an diesem Sonntag die große Schmugglerrunde, essen Schlutzkrapfen und Kässpätzle, von halb fünf bis halb neun machen sie Après-Ski, sie trinken Grauburgunder und Grünen Veltliner.
Um 18.03 Uhr meldet Apa, bei dem am Vortag positiv getesteten Mann handele es sich um einen Barkeeper aus dem „Kitzloch“. Eine Übertragung des Coronavirus auf Gäste der Bar sei „aus medizinischer Sicht eher unwahrscheinlich“, teilt daraufhin die Landessanitätsdirektion mit: „Für alle BesucherInnen, die im besagten Zeitraum in der Bar waren und keine Symptome aufweisen, ist keine weitere medizinische Abklärung nötig.“
Das „Kitzloch“ liegt unweit der Talstation der Pardatschgratbahn. Die Fensterläden sind rot-weiß
Das „Kitzloch“ gehört, wie die Diskothek „Kuhstall“ (Eigenwerbung: „Home of Wahnsinn“), zum Imperium der Hotelierfamilie Zangerl. Peter Zangerl führt das 1930 eröffnete Hotel „Silvretta“ in dritter Generation. Es gibt dort ein Gourmetrestaurant und einen 1200 Quadratmeter großen Wellnessbereich, die Gäste können im „Kitzloch“ Austern bestellen oder eine Mischung aus Jägermeister und Red Bull, „Hirsch“ genannt.
Nachdem bekannt geworden ist, dass der Barkeeper mit dem Virus infiziert ist, lässt man das Lokal desinfizieren. In Deutschland gibt es an diesem Sonntag 1000 Corona-Infizierte. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn fordert dazu auf, Großveranstaltungen mit mehr als tausend Teilnehmern abzusagen. Das „Kitzloch“ ist an diesem Abend voll wie immer. „Som sild i en tønde“, habe man im „Kitzloch“ gestanden, sagen dänische Besucher, „wie Heringe im Fass“.
Die Lombardei meldet 103 Tote, allein für diesen Sonntag.
Montag, 9. März
Österreich meldet 131 Infizierte, Deutschland die ersten beiden Corona-Toten. Der Virologe Christian Drosten sagt auf der Bundespressekonferenz: „Das ist eine absolut ernste Situation.“
Bei der Landessanitätsdirektion Tirol geht am Morgen eine dringende Warnung aus Norwegen vor dem Gefahrenherd Ischgl ein. Auch in Finnland und in Schweden gilt Tirol jetzt als Hochrisikogebiet.
Fünf Tage nach den Meldungen aus Island sieht sich die Tiroler Landesregierung zu einem Eingeständnis genötigt. Aufgrund der Erkrankung des „Kitzloch“-Barkeepers könne es „nicht ausgeschlossen werden, dass es eine Verbindung zu einem Teil der in Island positiv getesteten Personen gibt“.
Nicola Giesen und ihr Mann sitzen beim Mittagessen auf einer Hütte, als sich unter den Gästen herumspricht, dass das „Kitzloch“ geschlossen werden soll.
Um 15.53 Uhr wird gemeldet, der infizierte Barmann habe mindestens 15 Personen angesteckt.
Um 16.04 Uhr wünscht die „Schatzi-Bar“ ihren Gästen auf Facebook „a sexy, new week“.
Um 16.32 Uhr geht auf dem Smartphone des „Kitzloch“-Betreibers Peter Zangerl eine SMS ein. Ihr Text lautet, unkorrigiert, so: „Sperr Dein Kitz Bar zu – oder willst Du schuld am Ende der Saison in Ischgl u eventuell Tirol sein“?
Abgeschickt wurde sie von Franz Hörl. Hörl sitzt für die ÖVP im Nationalrat, in Tirol ist er Chef des Wirtschaftsbundes, Vize der Wirtschaftskammer und außerdem Sprecher der Seilbahnbetreiber.
Offenbar fürchtet Hörl, dass die Nachrichten aus dem „Kitzloch“ das Geschäft ruinieren könnten.
Wenig später schickt er eine zweite SMS an Zangerl: „Das ganze Land schaut auf Euer Lokal – wenn eine Kamera den betrieb sieht stehen wir Tiroler da wie ein Hottentotten Staat.“
Hörl besitzt ebenfalls ein Hotel. Was er nicht weiß: Auch sein Personal ist infiziert.
Peter Zangerl, der Besitzer des „Kitzlochs“, verfasst eine Antwort. Sämtliche Entscheidungen habe er mit „Gesundheitsbehörde, Amtsarzt, Exekutive etc.“ abgestimmt.
Um 18.59 Uhr meldet Apa, dass Zangerls „Kitzloch“ vom Land Tirol behördlich gesperrt worden sei, „im Einvernehmen mit dem Betreiber“.
Dienstag, 10. März
In Rom wird der Petersplatz gesperrt. In einem Videoappell fordert der Papst die Gläubigen in aller Welt auf, für die Priester zu bitten, die den Erkrankten Kraft und das Wort Gottes brächten.
In Kopenhagen verkündet die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen, die österreichische Skiregion Ischgl werde auf die Rote Liste gesetzt, zusammen mit der chinesischen Provinz Hubei, Iran und der Provinz Gyeongsangbuk-do in Südkorea.
In Innsbruck sagt Landeshauptmann Günther Platter am späten Nachmittag: „Man sieht also ganz eindeutig, wenn man sich die Verdachtsfälle, aber auch die Infizierungen anschaut, Hotspot ist hier Ischgl.“
Fast eine Woche ist seit den ersten Warnungen aus Reykjavík vergangen. Der Bezirkshauptmann in Landeck, sagt Platter, werde „Verordnungen erlassen, dass alle Après-Ski-Lokale in Ischgl gesperrt werden“. Und Sanitätsdirektor Katzgraber, der es noch am Donnerstag aus medizinischer Sicht als „wenig wahrscheinlich“ bezeichnet hatte, dass sich die isländischen Urlauber in Ischgl infiziert haben sollen, sagt: Wer den Abend in dicht gedrängtem Milieu verbringe, „mehr oder weniger alkoholmäßig angeheitert“, der lebe halt gefährlich.
In der Nachbargemeinde St. Christoph sitzen unterdessen 130 Sportärzte bei einem Kongress zusammen. Nach dem Abbruch der Veranstaltung entscheidet eine Mehrheit, noch zum Skifahren und Feiern zu bleiben. Tage später sind mindestens neun Ärzte mit dem Virus infiziert.
Mittwoch, 11. März
Die WHO gibt bekannt, dass es sich bei Corona um eine Pandemie handele. Präsident Donald Trump verkündet einen Einreisestopp für Europäer. Deutschland hat jetzt 1900 Infizierte, Österreich 246. In Irland gibt es den ersten Corona-Toten.
In Ischgl hört Nicola Giesen am Nachmittag, dass weitere Après-Ski-Bars geschlossen werden sollen. Die Giesens beschließen, den Urlaub trotzdem nicht abzubrechen. Sie macht mit ihrem Smartphone ein Foto von der Dorfstraße. Die Menschen drängen sich dort.
Auch an diesem Mittwoch läuft der Betrieb weiter. Am Nachmittag verkündet Landeshauptmann Platter in Innsbruck, dass der Skibetrieb in Ischgl vom kommenden Samstag an für zwei Wochen untersagt werde. Stolz sagt er: „Wir sind hier etwas früher dran wie andere Bundesländer.“
Und Sanitätsdirektor Katzgraber? Ausländer, die keine Symptome aufwiesen und erst nach der Inkubationszeit erkrankten, sagt er, würden das Virus „dann leider Gottes mitbringen – nach Hause“.
An diesem Mittwoch geht der Skitag in Ischgl zum ersten Mal ohne Après-Ski zu Ende. Restaurants und Lokale haben weiterhin geöffnet, auch abends.
Donnerstag, 12. März
Der Deutsche Aktienindex Dax verliert fast 1300 Punkte. Der Nachrichtensender n-tv schreibt auf seiner Website: „Es herrscht Panik.“ Fünf Tote sind es in Deutschland bis zu diesem Donnerstag, auf Twitter schreibt der Virologe Drosten: „Wir werden uns sehr bald auf den Schutz, die Testung und die bevorzugte Krankenhausbehandlung von besonders gefährdeten Gruppen fokussieren müssen.“
In Ischgl wird um eine Entscheidung gerungen. Die Seilbahnen laufen. Während Andreas Steibl, der Chef des Tourismusverbands, das vorzeitige Ende der Saison zum 15. März ankündigt, sagt der Ischgler Hotelier Günther Aloys: „Das ist ja nichts anderes als eine Grippe, die für die allermeisten nicht tödlich ist.“
Am Abend trifft sich Landeshauptmann Platter mit Vertretern der Tourismusindustrie. Im Tiroler Landhaus, heißt es hinterher, sollen Platter und der Liftbetreiber-Sprecher Hörl sich angeschrien haben – was allein Hörl bestreitet.
Freitag, 13. März
In der Säulenhalle des Innsbrucker Landhauses teilt Landeshauptmann Platter mit, dass er, nach einer Videokonferenz mit Bundeskanzler Kurz, „weitreichende Folgen“ für Tirol verkünden müsse: Die Saison sei zu Ende, es gelte zu verhindern, dass am nächsten Tag 150.000 neue Gäste nach Tirol strömten.
Neben Platter steht Franz Hörl. Er erlebe „den gravierendsten Eingriff überhaupt für die Wirtschaft und für den Tourismus seit dem Zweiten Weltkrieg“, sagt er. Und fügt hinzu, dass der gerade verkündete Schritt natürlich für viele „derzeit noch unverständlich“ sei. „Wir schließen immerhin das Land bei vollen Häusern und vollen Pisten.“ Und das, obwohl zwei Drittel des Landes „derzeit in keiner Weise“ vom Virus berührt seien.
Als der Bundeskanzler um 14 Uhr in Wien vor die Presse tritt, sitzt Nicola Giesen mit ihrem Mann beim Mittagessen. Die beiden hören im Radio, wie Kurz die „lieben Österreicherinnen und Österreicher“ über verschärfte Maßnahmen in Kenntnis setzt. Für das Tiroler Paznauntal und für die Gemeinde St. Anton am Arlberg hat er eine besondere Nachricht. „Diese Gebiete werden ab sofort isoliert“, sagt Kurz.
Die Giesens fahren ins Tal. Der Vater ihrer Wirtin rät ihnen, sofort abzureisen, man wisse nicht, wie lange die Grenzen noch offen seien. Er stempelt ihnen ihre Gästekarte ab, die Giesens müssen sie vorzeigen, als sie Ischgl verlassen. Auch sie werden in Deutschland positiv getestet.
Ganze Reisegruppen irren durch Tirol. Offenbar wird keiner, der Tirol verlässt, auf das Virus getestet. Auf den Straßen heraus aus den Tiroler Skigebieten stauen sich die Autos, obwohl viele ihre Flüge erst für den nächsten oder übernächsten Tag gebucht haben. Bei Wiesberg am Ausgang des Paznauntals angekommen, zerstreuen sich die Urlauber an diesem Freitagabend über Europa.
Die Schlagzeilen des Tages:
„Quarantänezone Ischgl: ‚Es herrscht totales Chaos'“
Seilbahnbetreiber-Sprecher Hörl: „Sperr Dein Kitz Bar zu“
„Ischgl und St. Anton – Bundesheer kommt in Tirol zum Einsatz“
„Über 100 Dänen haben sich in Ischgl angesteckt“
Am Abend stuft auch das Robert Koch-Institut Tirol als Risikogebiet ein – mehr als eine Woche nach den isländischen Behörden, sechs Tage nach den Norwegern, drei Tage später als die Dänen. Auf Nachfrage des SPIEGEL, warum das RKI bis zum 13. März gewartet habe, antwortet die Sprecherin: „Wir haben wegen der aktuellen Situation derzeit keine Ressourcen für historische Recherchen.“
Durch den Saisonabbruch werde man 380.000 Übernachtungen weniger haben als geplant, heißt es beim Ischgler Tourismusverband. Alexander von der Thannen, der Obmann, schätzt die Gewinneinbußen auf 20 bis 25 Prozent.
Donald Trump ruft für die USA den nationalen Notstand aus.
Die Seilbahnen und Lifte in Ischgl fahren nicht mehr. Die Bars und Restaurants sind geschlossen. Das Ischgl Closing mit Eros Ramazotti auf der Idalpe ist abgesagt. Ischgl liegt wie ein stillgelegter Erlebnispark im Tiroler Paznauntal.
Elf Tage später, am 24. März, erstattet der österreichische Verein zum Schutz von Verbraucherinteressen Strafanzeige, unter anderem gegen das Land Tirol, Landeshauptmann Günther Platter, Sanitätslandesrat Franz Katzgraber, die Silvrettaseilbahn AG sowie gegen weitere Geschäftsführer und Hoteliers. Und gegen Franz Hörl, den Sprecher der Seilbahnbetreiber. Der Vorwurf: vorsätzliche Herbeiführung einer Gemeingefahr.
Und noch einen Tag später, am 25. März, berichtet der britische „Telegraph“, der IT-Berater Daren Bland aus Maresfield in East Sussex habe sich bereits im Januar in Tirol infiziert. Vom 15. bis zum 19. Januar sei er mit drei Freunden in Ischgl gewesen, zum Skilaufen: Zwei kamen aus Dänemark, der dritte aus Minnesota, USA. Alle drei zeigten nach ihrer Rückkehr Corona-Symptome.
Zu Hause steckte Bland seine Frau und seine Tochter an. Es sei denkbar, so die Zeitung, dass Bland der erste britische Corona-Fall überhaupt gewesen sei.
Für Ischgl und den Rest des Tals bedeutet das vorzeitige Saisonende: 111 Millionen Euro weniger Umsatz in diesem Winter. Der Schaden für die restliche Welt kann noch nicht beziffert werden. Auf Twitter gibt es den Hashtag #Ischglgate, der Ort wird in einer Reihe genannt mit Wuhan, Heinsberg und Bergamo.
Stand Infizierte / Tote am 26. März, 17.30 Uhr:
Österreich 6398 / 49
Island 802 / 2
Irland 1564 / 9
Dänemark 1997 / 41
Norwegen 3279 / 14
Italien 74 386 / 7503
Deutschland 41 519 / 239
Quelle: Der Spiegel