11. Juli 2019: Ruhig flog die Boeing 777 von Air Canada über dem Pazifik. Die Nacht war wolkenlos. Viele Passagiere schliefen, manche standen in den Gängen, andere schauten Filme. Die Anschnallzeichen leuchteten nicht. Dann passierte es. In Zukunft, so sagt es jetzt der Atmosphärenforscher Paul Williams von der University of Reading voraus, dürfte dieses Phänomen wesentlich häufiger vorkommen – denn der Klimawandel wirkt nicht nur am Boden, sondern in spezieller Weise auch in der Höhe.
Ohne jede Warnung fiel das Flugzeug viele hundert Meter tief. Bücher, Laptops, Getränkeflaschen flogen wie Geschosse durch die Luft – und Passagiere, die nicht angeschnallt waren knallten mit dem Kopf gegen die Kabinendecke und stürzten sogleich wieder hinunter auf Sitze oder andere Fluggäste. So plötzlich der Horror begonnen hatte, so plötzlich hörte er wieder auf. Die Besatzung musste sich um blutende, weinende und schockierte Menschen kümmern. Sauerstoffmasken baumelten von der Decke. Von den 269 Passagieren waren 37 verletzt, manche davon schwer. Um sie zügig ins Krankenhaus zu bringen, entschied der Kapitän, den Flug von Vancouver nach Sydney abzubrechen und stattdessen nach weiteren zwei Stunden Flugzeit in Honolulu auf Hawaii zu landen.
Was den kanadischen Jet am 11. Juli bei scheinbar bestem Flugwetter gebeutelt hatte, war ein Fall von „Clear Air Turbulence“, kurz CAT genannt. Es gibt viele Gründe, warum Flugzeuge manchmal unangenehm rütteln und schütteln – aber so gefürchtet wie die sogenannte Klarluftturbulenz ist sonst keiner. Das Tückische daran: Kein Pilot, Radar, Satellit oder Meteorologe kann eine CAT vorhersagen. Die Turbulenz kommt aus dem Nichts.
Vor Air Canada hatte die CAT an jenem Julitag bereits einem anderen Flieger zugesetzt – einem Airbus A380 der Fluggesellschaft Emirates. Die Riesenmaschine war tags zuvor in Neuseeland gestartet. Etwa drei Stunden vor der Landung in Dubai sackte der Jet ohne Vorwarnung ab. Passagiere, die nicht angeschnallt waren, wurden von ihren Sitzen gerissen; viele von ihnen krachten ebenfalls mit dem Kopf gegen die Kabinendecke und verletzten sich. In sozialen Netzwerken kursiert ein Video, das eine Szenerie mit umgestürzten Trolleys in den Bordküchen, die komplett verwüstete Bar der Businessclass zeigt.
In Zukunft, so sagt der Atmosphärenforscher Paul Williams von der University of Reading voraus, dürfte dieses Phänomen wesentlich häufiger vorkommen – denn der Klimawandel wirkt nicht nur am Boden, sondern in spezieller Weise auch in der Höhe. Ein CAT-Ereignis, unter Passagieren irreführend als „Luftloch“ bekannt, könne entstehen, wenn oberhalb von 6000 Meter Höhe Luftmassen einander passieren, die mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs sind. Das geschieht besonders oft im Bereich der Jetstreams – jener Starkwindbänder in der Troposphäre, die sich über den mittleren Breiten oder auch den subtropischen Gebieten von West nach Ost bewegen. Eigentlich ist der Polarfrontjetstream ein willkommener Flugbegleiter: Vor allem im Winter gibt er den Maschinen auf vielen Routen Rückenwind und verkürzt so die Flugzeit zum Beispiel von Chicago nach Frankfurt manchmal um zwei Stunden.
Jetstream neigt aufgrund des Klimawandels zu Schlingern
Wegen des Klimawandels, so Williams, neige der Jetstream allerdings seit einiger Zeit zum Schlingern. Er bewege etwa Wettersysteme über Europa oft nicht mehr so schnell fort wie zuvor, weswegen es vermehrt zu verharrenden Wetterlagen komme, wochenlang Sonne etwa oder wochenlang Regen.
Außerdem, so berichtet Forscher Williams, werde der Jetstream aufgrund des Klimawandels immer unruhiger: Seine Windgeschwindigkeiten in den verschiedenen Höhen unterschieden sich zusehends stärker. Seit Beginn der Erhebung von Satellitendaten im Jahr 1979, so schreibt Williams im Wissenschaftsmagazin „Nature“, haben die vertikalen Windscherungen in der typischen Reiseflughöhe über dem Nordatlantik um rund 15 Prozent zugelegt. Schon jetzt liege das Risiko für turbulente Transatlantikflüge höher als früher.
Risiko steigt, wenn der CO2-Ausstoß nicht massiv begrenzt wird
Und dieses Risiko werde weiter steigen, vor allem wenn die Menschheit den CO2-Ausstoß nicht massiv begrenzt. Williams hat berechnet, wie sich das Flugwetter ändert, wenn die Emissionen ungebremst anhalten. Ergebnis: In der Zeit nach 2050 werde sich die Zahl der besonders starken CAT-Ereignisse in großer Höhe mehr als verdoppeln. Besonders ungemütlich werde es über Europa und noch mehr auf Transatlantikflügen.
So weit die schlechten Nachrichten. Hier noch eine gute: Weltweit arbeiten Forscher an neuen lasergestützten Instrumenten, die vor schweren Turbulenzen warnen. Immerhin etwa eine Minute vor Beginn der Rüttelei sollen sie Alarm geben – Zeit genug, um von der Warteschlange vor der Toilette zum Sitz zu rennen und sich anzuschnallen. Denn der Gurt wird auch in Zukunft für Passagiere und Crew-Mitglieder der beste und der einzige Schutz bei Clear Air Turbulence sein.
Quelle: Spiegel online