Der „Wirtschaftsgipfel Deutschland 2018“ am 22. September in Frankfurt am Main war ein Tag der kritischen Selbstbetrachtung. Er stand unter der provokanten Fragestellung: „Deutschland im Stillstand?“ Welchen Aufholbedarf hat Deutschland im globalen Vergleich auf dem Gebiet der Digitalisierung? Vertreter aus Wirtschaft, Forschung und Politik, aber auch junge Startup-Unternehmer, wie etwa Christoph Bornschein, CEO von Torben, Lucie und die gelbe Gefahr, oder André Schwämmlein, Mitbegründer und Geschäftsführer von Flixbus, gaben sich ein Stelldichein und waren sich ziemlich einig: Deutschland muss aufholen, um nicht irgendwann von außen gesteuert zu werden!
Die Frage, ob Deutschland sich auch im Bereich Forschung und Entwicklung im Stillstand befindet, versuchte Prof. Dr. Pascale Ehrenfreund (Bild oben), die Vorstandsvorsitzende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), so zu beantworten: „Wir brauchen in der Forschung den Blick und den Griff zu den Sternen, um aufzuholen.“ Deutschland habe weltweit anerkannte Traditionsunternehmen, sei aber wenig risikoaffin um neue Geschäftsmodelle, um Startups, vor allem in Tech-Bereichen zu gründen oder zu fördern. Außerhalb Europas sei man auf dem Gebiet der digitalen Transformation sehr „umtriebig“ und es gebe zahlreiche große Projekte. Vor allem in Teilen Asiens und in Nordamerika würden Maßnahmen ergriffen und Trends gesetzt. Dazu gebe es massive staatliche Förderung etwa in Ländern wie China. Dort flössen Milliarden Dollar Investitionen in die Erforschung Künstlicher Intelligenz. Es gebe eine 500 Milliarden Dollar-Investition in Saudi Arabien. Ein Projekt, das in den nächsten Jahren beginnen werde, sei die Zukunfts Tech Stadt NEOM mit emissionsfreiem und voll automatisiertem Verkehr. NEOM soll zudem Forschungsstandort für Biotechnologie, Nanotechnologie, Robotic und E-Mobilität werden. All das passiere außerhalb von Europa, vor allem in USA und in China.
Man schaffe es nicht, mitzuhalten
Man habe in Deutschland und Europa großartige Forschungseinrichtungen. Das DLR sei ein Teil der Helmholtz-Gemeinschaft, der größten europäischen Forschungsgemeinschaft mit 38 000 Forscherinnen und Forschern, mit guter Forschungsförderung, Deutschland habe hervorragende Universitäten und trotzdem schaffe man es nicht, mit diesem globalen Tempo wirklich mitzuhalten, sagt Professor Ehrenfreund. Die großen amerikanischen Tech-Konzerne wie Apple, Amazon oder Microsoft hätten sechs- bis zwölfmal höhere Börsenbewertungen wie deutsche Firmen. Apple sei das erste Unternehmen in der Geschichte, das diesen Markt mit einer Milliarde Dollar Marktkapitalisierung gebrochen habe. SAP sei sicher hierzulande ein innovatives neuartiges Technologieunternehmen, aber es bleibe eine Ausnahme.
Die hohe Innovationsfähigkeit in Amerika, die Rekrutierung von jungen Leuten von Top-Universitäten und sehr viel Flexibilität zeichne diese Firmen aus. Natürlich gebe es hierzulande bewährtes Denken und Stabilität, aber Deutschland brauche einen schnelleren flexibleren, risikoaffineren Weg und einen unkonventionellen Ansatz, so einen wie USA oder China ihn haben. Es müssten Freiräume geschaffen werden, um neue digitale Geschäftsmodelle aufzubauen. Diese müssen entsprechend gefördert werden. Man müsse die Risiko-Aversion, die in Deutschland und auch in Europa weit verbreitet sei, überwinden. Vor allem aber brauche man Fachkräfte aus den MINT(Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) -Fächern. Deutschland fehlten über 300 000 Fachkräfte in den MINT-Fächern. Nur 1,4 Prozent der MINT-Absolventen würden im Jahr 2030 laut OECD-Studie aus Deutschland kommen, aber 40 Prozent aus China. Den Studierenden hier müssten diese Fächer, diese Studienrichtungen wieder schmackhaft gemacht werden. Dazu sei jeder in der Wirtschaft und in der Forschung angehalten, damit diese Lücke geschlossen werden könne. So der Appell Ehrenfreunds. Auch im Bereich wissenschaftlicher Publikationen zum Thema Künstliche Intelligenz entwickele sich China enorm. Auch hier müsse Deutschland sich nach vorne bewegen, denn die Publikations-Rate sei seit einigen Jahren gleichbleibend.
Von außen gesteuert? Eine böse Zukunftsvision?
Die Vorreiterrollen von USA und China seien nicht mehr zu übersehen. China habe vor allem in UNICORNS investiert, in Firmen, die in kürzester Zeit die 1 Milliarde Dollar -Umsatzgrenze erreichen. Es gebe etwa 15 UNICORNS , davon 6 in den USA und 9 in China, die meisten im Bereich High-Tec und Big Tec. Wenn Europa und Deutschland hier nicht aufhole, könnte es passieren, dass unser Lebensstil, unsere Technologien von außen gesteuert werden. Wie man damit umgehe, das müsste man sich überlegen.
Bei der Digitalisierung, demografischen Entwicklung und Globalisierung müsse man aber europäisch handeln und man müsse international zusammenarbeiten. Dies bedeute interdisziplinär in der Forschung, beim Klimaschutz, beim demografischen Wandel, bei der Urbanisierung neue Lösungen zu finden. Das gehe nicht mehr nur mit einer Forschungsrichtung, sondern man müsse global zusammenarbeiten. Beim DLR fokussiere man sich auf die globalen Herausforderungen, auf Nachhaltigkeit. Emissionsarme Mobilität stehe im Vordergrund, nicht nur auf der Straße, auch in der Luft. Man betreibe die größte zivile Forschungsflotte Europas, um in der Atmosphäre zu messen und alternative Treibstoffe zu testen, gemeinsam mit der NASA. Robotic sei ein ganz wichtiges Thema. Man müsse aber noch mehr Forschung wagen und risikoreicher entlang der gesellschaftlichen und globalen Herausforderungen weiterarbeiten.
Man brauche neue Geschäfts- und Förderungsmodelle und sich dem Schreckensbild Stillstand entgegensetzen. Die Deutschen seien Pioniere im Bereich der Erdbeobachtung via Satellit, Pioniere in der Nanotechnologie und können maßgeblich dazu beitragen, die weitere Erderwärmung zu beschränken. Die Erdbeobachtung liefere dazu wertvolle Daten für den Umweltschutz, für die Sicherheit und den Katastrophenschutz, für die Landwirtschaft, für die Atmosphärenforschung sowie für die Küsten- und Meeresforschung.
Wer die Machtfrage nicht beantwortet, kann die Sachfragen nicht lösen
Die Politik ist in jedem Fall gefordert, Rahmenbedingungen zu schaffen auf nationaler und auf europäischer Ebene. Dass das nicht immer leicht ist, versuchte Roland Koch, ehemaliger hessischer Ministerpräsident, derzeit Aufsichtsratsvorsitzender der UBS-Europe SE und Aufsichtsratsmitglied der Vodafone Deutschland, der RTL-Moderatorin und dem Publikum so zu erklären. „Wer die Machtfrage nicht beantwortet, kann die Sachfragen nicht lösen“. Erst müsse in der Politik also die Machtfrage geklärt sein, erst danach könne man sich um die Sache kümmern. Deutschland befinde sich in einem Umbruch. Ein Großteil der Bevölkerung wolle diese Regierung nicht. Außerdem sagt Koch: „Wir sind ein vorsichtiges Volk“ und ergänzt provokant, dass die mutigen Europäer vor langer Zeit ausgewandert seien, um in der neuen Welt ihr Glück zu versuchen. Die Nachkommen vieler Auswanderer seien in Silicon Valley. Das gesellschaftliche System in Deutschland sei darauf ausgelegt, Unternehmungen vorher zu überlegen, ob sie gut gehen und welche Risiken sie bergen. Das habe durchaus Vorteile. Aber Europa und auch Deutschland seien an einem gefährlichen Punkt angelangt. Weil es nicht mehr so sehr um die Hardware, sondern um Softwaretechnologie gehe. Die große Gefahr zudem sei der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands. Die Auftragsbücher seien voll, vor allem beim Mittelstand. Dieser habe man mehr Sorge, die Aufträge abzuarbeiten, als sich um IT und Entwicklungen, noch dazu um digitale, zu kümmern. Diese, so meint auch Koch, passierten derzeit größtenteils außerhalb Deutschlands und Europas und das sei brandgefährlich. Das der Öffentlichkeit zu vermitteln, sei derzeit die ganz große und wichtige Aufgabe.
Ob es in der Politik an Stars fehle, die die große Bedeutung der digitalen Transformation und den Aufholbedarf lautstark proklamieren und ob ein Steve Jobs in der Politik gut tun würde, war eine Frage aus dem Publikum. „Ja“, sagt Koch, „würde es“. Doch man müsse sich aber die Frage stellen, wieviel Provokation eine demokratische Gesellschaft vertrage. Jens Spahn halte er für derlei Art von Provokation fähig. Aufhorchen ließ das Statement von Dr. Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der LINKEN. Bei 90 Prozent der Dinge, über die im Bundestag abgestimmt werde, hätten die Abgeordneten gar keine Sachkenntnis, um darüber entscheiden zu können. Das sei normal. Man verlasse sich auf das, was einem die Experten raten. Welche Experten fragt man sich, beraten die Politik auf dem Gebiet Digitalisierung? Achim Berg, Präsident Bitcom e.V. sagt, dass man schnellstens drei wichtige Themen anpacken müsse: die digitale Bildung, die digitale Verwaltung und die digitale Infrastruktur. 70 bis 100 Milliarden Euro etwa müssten investiert werden, um überall in Deutschland 5 G zu haben. Dazu seien 200 000 Mobilfunkstandorte erforderlich. Derzeit gebe es 25 000. Man brauche Glasfaser und Breitband überall in Deutschland.
Das Handelsblatt nannte ihn einmal ´Digitalisierungsflüsterer`. Er betreibt eine Agentur für digitale Geschäftsmodelle, berät DAX-Unternehmen und Ministerien, hat unter anderem beim Aufbau des Lufthansa Innovation Hub in Berlin mitgewirkt: Christoph Bornschein(Bildmittte). Auch er und André Schwämmlein, Co-Gründer und Geschäftsführer FlixBus, der seit 2012 mit seinen Fernreisebussen Deutschland erobert, mit Flix-Mobility die Deutsche Bahn unter Druck setzen will und auf Expansionskurs in den USA ist, warteten in ihren Antworten auf die Fragen von Moderatorin Caroline Rudelt, mit interessanten Thesen auf. Deutschland stehe auf dem Innovationsindex auf Platz 9 von 26 Ländern. Das sei gar nicht so schlecht, aber gefühlt laufe derzeit sehr viel an Entwicklung an Deutschland vorbei. Es werde viel zu wenig gehandelt, beklagt Christoph Bornschein. Jede der 30 DAX-Firmen bedeute für einen internationalen Investor nur eine Ergänzungsinvestition. Man brauche eine viel breitere volkswirtschaftliche Diskussion, was passiert, wenn die Chinesen die europäische Kultur verstanden haben und Europa als erweiterten Binnenmarkt betrachten. Man müsse Plattformen bauen mit eigenen Werten. In dem Moment, in dem man Plattformen der Amerikaner oder Chinesen nutze, entscheide man sich auch deren Werte zu akzeptieren. Wenn man an europäische Werte glaube und an ihre Wettbewerbsfähigkeit, müsse man nationale und europäische Startups fördern. Der Staat, so Schwämmlein, könne und solle Regulierung schaffen. Wenn etwas schief laufe, könne man immer noch korrigieren, das sei vollkommen ok. Es sei aber in jedem Fall leichter im Mittelstand in die nächste Welle zu transferieren, als für Großkonzerne. Bornschein beklagt den Verlust von Fortschrittsoptimismus in Deutschland. Man habe Probleme Fachärzte auf Land zu bringen und verbiete gleichzeitig die Telemedizin. Es sei zu verdammen, wenn jemand nicht will, dass die Zukunft kommt. Es müsse heißen: Fortschritt ist gut für uns und wird gut für uns sein.
Was die Zukunft anbelange, sagt Bornschein, müssten die Deutschen so schnell wie möglich in innovative Unternehmen investieren, die Kapitalertragssteuer müsste gesenkt werden und das Bildungssystem so schnell wie möglich angepasst. Wenn das innerhalb einer Legislaturperiode passiere, könnte es funktionieren. Wenn nicht, werde es düster. Dann werden kluge Köpfe und innovative Unternehmen abwandern. Schwämmlein blickt teils pessimistisch, teils optimistisch in die Zukunft. Er glaubt, man werde unglaublich spannende Zeiten erleben werden und eine bessere Zukunft als man sich das vorstellen kann. Man schreibe derzeit die Zukunft der Mobilität. Pessimistisch ist er, weil er derzeit wenig Einheit und Zusammenhalt in Europa sieht und der Fokus auf viele andere Dinge gerichtet sei, nicht auf die digitale Transformaion. Über allem stehe – und das sei das Allerwichtigste: „Wir Europäer können nur stark sein, wenn wir zusammenhalten.“
Text und Fotos: Johanna Wenninger-Muhr