Zum zweiten Mal kürte in diesem Sommer das Wirtschaftsmagazin Capital die besten Digitallabore deutscher Großkonzerne. Die Innovation-Labs von Lufthansa, Linde, Daimler und Pro Sieben Sat 1 sind laut einer Studie die besten. Doch Deutschland hat Nachholbedarf beim Thema Digitalisierung, das sagen inzwischen viele, etwa Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU Generalsekretärin, oder Gleb Tritus, Mitbegründer und Geschäftsführer des im Jahr 2014 gegründeten Lufthansa Innovation Hubs in Berlin und Vorreiter in vielen Diziplinen. Visionsblog.info sprach mit dem Serienunternehmer, Business Angel und Innovator.
Visionsblog.info: Herr Tritus, es gebe zu wenig Bewusstsein für die Anstrengungen, die nötig sind, um die wirtschaftliche Stärke Deutschlands in einer völlig veränderten Welt auch für die Zukunft zu erhalten, sagte Annegret Kramp-Karrenbauer, CDU-Generalsekretärin, gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung am 16. September. Wie sehen Sie das?
Gleb Tritus: Ich pflichte bei, dass noch immer zu wenig Bewusstsein für die Tatsache besteht, dass der Bedarf an technologischer Auffassungsgabe und Anpassungsfähigkeit längst nicht mehr linear, sondern überproportional steigt. Fundamentale Veränderungen passieren schlichtweg schneller als noch vor zehn oder 15 Jahren. Hier gerät der Wirtschaftsstandort Deutschland zunehmend ins Hintertreffen. Gleichzeitig wird Digitalisierung mittlerweile vorschnell als Allheilsmittel und heiliger Gral gesehen. Das Thema passt in so ziemlich jeden Branchenkontext und ist in den Organisationen, aber auch in der breiten Öffentlichkeit fortwährend im Rampenlicht. Zuweilen kann so gerade in der essentiellen Arbeitsebene eines Unternehmens der Eindruck entstehen, das alles fernab von Digital keine wesentliche Rolle mehr spielt. Dem ist natürlich keinesfalls so – am Ende müssen alte Tugenden und Kompetenzen in ein neues Zeitalter überführt und digital aufgepolstert werden.
Visionsblog.info: Auch der „Wirtschaftsgipfel Deutschland“ am kommenden Wochenende befasst sich in diesem Jahr mit der Fragestellung: „Deutschland im Stillstand?“ ….hier ist vor allem auch die Digitalisierung gemeint. Bewegt sich auch zu wenig im Bereich Aviation, eigentlich einem Vorreiter der Digitalisierung? Was kann noch besser werden?
Gleb Tritus: Branchenübergreifend geurteilt hat sich längst herumgesprochen, dass wir als einer der weltweit führenden Wirtschaftsstandorte erheblichen Nachholbedarf beim Thema Digitalisierung aufweisen. Das kann man als Zwischenzeugnis erstmal so stehen lassen, um die allgemeine Handlungsnotwendigkeit zu befeuern.
Im nächsten Schritt muss man Status Quo, Chancen und konkrete Möglichkeiten doch sehr differenziert und branchenabhängig beurteilen. Gerade im Bereich Luftfahrt, aber auch in anderen, stark regulierten Branchen wie Gesundheits- oder Finanzwesen, liegt es nahe, dass Digitalisierung mit dem Kopf durch die Wand nicht funktionieren kann.
Es ist daher sehr im Sinne aller Beteiligten – insbesondere der Passagiere – dass die zivile Luftfahrt viel Wert auf „doppelten Boden“ legt und nicht auf jeden vermeintlich innovationsträchtigen Zug aufspringt.Gleichzeitig verstehen wir als Lufthansa Innovation Hub unsere Aufgabe darin geschützte, nichtsicherheits-relevante Freiräume zu schaffen, um digital und testgetrieben experimentieren zu können. Diese Herausforderung haben alle großen Airlines, die sich ernsthaft mit dem Thema Digitalisierung beschäftigen, gleichermaßen und da gibt es definitiv noch Luft nach oben.Konkreter sind die Anschlussfähigkeit an das rapide wachsende Travel & Mobility Tech Ökosystem – Stichwort offene Programmierschnittstellen (sog. APIs) – sowie der verstärkte Blick über den Flug-Tellerrand hinaus wesentliche Herausforderungen, wo gerade wir als Lufthansa Group uns mittlerweile federführend positioniert sehen.
Visionsblog.info: Sie treiben als Geschäftsführer des „Lufthansa Innovation Hub“ die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle für den weltweit größten Luftfahrtkonzern voran. 2017 und 2018 waren sie Preisträger des „Digital Leader Awards“ mit Geschäftsmodellen wie „Lufthansa Open API“ in 2017 und „AirlineCheckins.com“ in 2018. Was ist das bahnbrechend Neue dieser beiden Geschäftsmodelle, ist es mehr als die Digitalisierung herkömmlicher Abläufe?
Gleb Tritus: AirlineCheckins.com ist tatsächlich der weltweit erste digitale Assistent für das Einchecken von Flügen – und zwar nicht nur von Lufthansa-Flügen, sondern allen Airlines, die einen Online-Check-In anbieten. Bis dahin gab es einen solchen Service schlichtweg nicht und die hohe Nutzeraktivität und -zufriedenheit zeigt uns, dass wir hier augenscheinlich einen Nerv treffen. Im nächsten Schritt werden wir um den Check-In herum weitere sinnvolle Assistenzdienste aufbauen. Es handelt sich um ein echtes Plattformmodell, das wir über die bestehende Infrastruktur einer ganzen Industrie legen – den eigentlichen Check-In-Prozess auf Airline-Seite fassen wir dabei gar nicht an.
Als wir 2014 die Lufthansa Open API vorgestellt haben waren wir ebenfalls „First Mover“: Lufthansa war damals die erste Airline weltweit mit einer offenen Programmierschnittstelle nach Marktstandard. Bis heute bieten nur 4% aller IATA- Airlines eine solche API an, die explizit neu aufkommende Spieler des Mobility & Tech Spielfelds adressiert. Einen solchen Aufwand betreibt man am Ende des Tages um diesen innovativen Unternehmen einen kontrollierten und skalierbaren Anschluss an die Lufthansa-Welt zu ermöglichen.
Visionsblog.info: Und wo sind Ihre derzeitigen Baustellen? Was kann/muss alles noch digitalisiert werden?
Gleb Tritus: Digitalisierung zieht sich wie ein roter Faden durch so ziemlich alle Bereiche einer Organisation. Die Opportunitäten sind dementsprechend schier unendlich. Als Lufthansa Innovation Hub fokussieren wir uns derzeit auf ganz bestimmte Stellschrauben der Reise- und Mobilitätskette, wo Lufthansa neben Kapital sehr konkrete strategische Mehrwerte in die Gleichung bringen kann – so beispielsweise Kundenreichweite, bestimmte Daten, Aviation- oder Loyalty-Knowhow, einen weltweiten, vertrauenswürdigen Fußabdruck. Naheliegende Bereiche in diesem Kontext sind beispielsweise das digitale Management von Geschäftsreisen oder die Reinterpretation des Begriffs „Loyalität“ im Zeitalter deutlich veränderter Kundenbedürfnisse.
Visionsblog.info: Im Rahmen des Programms „7 to 1“, das Lufthansa 2014 gestartet hat, wurden 500 Millionen Euro für Innovationen bis 2020 zur Verfügung gestellt. Wieviel hat der „Lufthansa Innovation Hub“ davon bekommen?
Gleb Tritus: Unsere Budgetsituation können wir leider nicht kommentieren. Fest steht jedoch, dass die bezeichneten Mittel seither einer großen Bandbreite von Maßnahmen und Projekten im Digitalisierungs- und Innovationskontext zugeführt wurden. Wir als Innovation Hub profitieren naturgemäß davon, indem wir beispielsweise ziemlich regelmäßig projektbezogene Anschubfinanzierungen für unsere Prototypen vom Konzern beziehen.
Visionsblog.info: Reichen die Ihnen zur Verfügung gestellten Mittel aus, oder soll mit Lufthansa´s Einstieg ins Wagnis-Kapital-Geschäft jetzt aufgestockt werden?
Gleb Tritus: Bislang fühlen wir uns finanziell ausreichend ausgestattet. Gerade für interne Innovations- und Digitalisierungsprojekte haben wir mit zwei flexiblen, reaktionsfreudigen Finanzierungsvehikeln eine hervorragende Ausgangssituation.
Echtes Wagniskapitalgeschäft im Tech-Kontext betreiben wir derweil noch nicht systematisch. Wir konnten im vergangenen Jahr mit ersten opportunistischen Investments strategischer Natur sehr wertvolle Erfahrungen sammeln. Derzeit arbeitet der Lufthansa Innovation Hub daran, diese Erkenntnisse in eine systematische und skalierbare Venture-Capital-Logik zu überführen. Die dafür benötigten Mittel sind dann zum gegebenen Zeitpunkt eine separate Diskussion.
Visionsblog.info: Wie arbeiten Sie mit Christian Langer, „Vice President Digital Strategy, Innovation and Transformation“ der Lufthansa Group, zusammen? Wie sehen die Schnittstellen aus?
Gleb Tritus: Die Konstellation ist besonders und wird im Lufthansa Innovation Hub erstmals so gelebt: Christian Langer verantwortet nicht nur die Digitalisierungs-bestrebungen der Lufthansa Group, sondern agiert auch gleichzeitig als zweiter Geschäftsführer des Innovation Hubs neben meiner Person. Die Zusammenarbeit ist dementsprechend eng. Christian wird als Teil des Teams verstanden und ist mittlerweile ein unabdingbarer Wegbereiter für unsere Themen an den diversen Schnittstellen im Konzern. Umgekehrt gibt er uns die Möglichkeit, maßgebend an der Digitalstrategie der Lufthansa Group mitzuwirken, die letztendlich die Leitplanken für unsere Arbeit der nächsten Jahre setzt. Unabhängig vom zugrunde gelegten Thema ist es für einen Großteil des LIH-Teams, das ursprünglich eben nicht aus einer großen Organisation kommt, extrem hilfreich jemanden mit tiefem Konzernverständnis an der Seite zu haben. Wir sind also mehr denn je in einem konkreten, operativen Modus unterwegs, weit über den üblichen Austausch hinausgehend.
Visionsblog.info: Was zeichnet die US-amerikanische Startup-Kultur aus und was die deutsche, wo sind die Unterschiede?
Gleb Tritus: Da gibt es ganz wesentliche Unterschiede. Zwei vielzitierte Themen, die tatsächlich zutreffend sind:
1. Die Risikobereitschaft ist im US-amerikanischen Raum sowohl auf Gründer-, als auch Investoren-Seite deutlicher ausgeprägt. Europa, insbesondere die Ökosysteme England, Frankreich und Deutschland, konnten dahingehend in den letzten Jahren jedoch spürbar aufholen.
2. Die Fehler- und Scheitertoleranz variiert immens. Viele US-Gründer feiern die Tatsache, dass sie schon zweimal Mal gegen die Wand gefahren sind, fast schon übermäßig. Deutsche Tech-Entscheider beispielsweise sehen das deutlich differenzierter.
Wir können jedoch nicht verkennen, dass viele bekannte Gründer zwei, drei Anläufe gebraucht haben bis etwas nachhaltig funktioniert hat. Dass sie auf dem Weg ein paar Mal gestolpert sind, hat sie oftmals nachhaltig geprägt und oft erst die eine, goldene Opportunität eröffnet. Hierzulande ist der Begriff „Scheitern“ deutlich negativer konnotiert. Am Ende sollte die tatsächliche Einordnung individuell und fallabhängig stattfinden – da ist uns die US-amerikanische Gründerszene definitiv voraus. Im Übrigen muss man feststellen, dass viele Branchen mittlerweile viel intensiver auf die asiatische Tech-Szene blicken als auf die US-amerikanische. In China beispielsweise ist der kulturelle Stretch zum Westen deutlich größer als zwischen USA und Europa. Ich bin daher immens gespannt wo sich die dortige, derzeit extrem dynamische Tech-Welle einpendeln wird.
Visionsblog.info: „If you are going to do it – do it properly, or don´t do it at all” sagt Gründer und CEO von Clarity PR. Hemmt das nicht die Freude am Experimentieren? Wie stehen Sie dazu?
Gleb Tritus: Ich kenne den expliziten Kontext dieses Zitats nicht, halte es aber in der isolierten Betrachtung für zu allgemein. So gibt es meines Erachtens kein „One size fits all“-Mantra beim Thema Digitalisierung. Vielmehr ist die Ausprägung von Experimentierfreudigkeit und detailverliebter Fokussierung eine Frage der Evolutionsstufe: Ist die zugrunde gelegte Hypothese noch nicht validiert, hat man gar keine andere Wahl als flexibel und sprunghaft zu bleiben, Themen stellenweise durchaus halbgar anzureißen und diese auch genauso schnell wieder zu verwerfen wenn sie denn nicht haften bleiben. Ist man dagegen im sicheren Fahrwasser angekommen, stimme ich zu, dass man seine Aufgabe nachhaltig und fokussiert angehen sollte. Wer mit seinem Geschäft in der durchdigitalisierten Welt von heute bestehen will, muss sich industrieunabhängig – wohlgemerkt mit Bedacht und größtem Feingefühl – beide Modi aneignen.
Visionsblog.info: „Investoren sind deutlich mehr als Kapitalgeber. Wir verfolgen langfristige Visionen – und da möchten alle, die am selben Tisch sitzen, einen Mehrwert bringen“, sagt Alexander Rinke von Celonis. Sie sind selbst Business Angel. Ticken die Amerikaner hier anders als die Europäer oder Deutschen, oder denken die genauso? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Gleb Tritus: Bezogen auf im Tech-Umfeld agierende Business Angels ist die Kultur dieses überschaubaren Kreises auch hierzulande eher US-amerikanisch geprägt. Das ist in den meisten Fällen positiv. Solche Frühstphaseninvestoren sind qua Auftrag überdurchschnittlich risikofreudig, entscheiden vielfach mehr personen- als themenbezogen und sind immens wichtige Networking-Maschinen im Sinne der zumeist noch jungen und unbekannten Startups, die sie unterstützen. Das ist auf den ersten Blick nicht signifikant anders als beispielsweise in den USA, wo vielleicht noch die Lautstärke etwas stärker ausgeprägter ist. So haben wir hierzulande aus Kapitalnehmerperspektive zumindest kulturell einen guten Nährboden. Verbesserungsbedarf besteht indes bei staatlichen Incentivierungsmodellen und Programmen zur Stärkung des im internationalen Vergleich schwachen Wagniskapitalstandorts Deutschland.
Visionsblog.info: Dieselverbote und Luftreinheitspläne verschiedener Großstädte verändern mittlerweile die Art der Fortbewegung, die Infrastruktur und die Ansprüche der Menschen, die dort leben. Wird es irgendwann auch ein App geben, die auf Intermodalität setzt und z.B. „Flug/Öffentlicher Nahverkehr“ verbindet?
Gleb Tritus: Erste, ernstzunehmende Anwendungen dieser Machart gibt es bereits, so beispielsweise GoEuro oder Rome2Rio. Die technologischen Herausforderungen hinter dem Zauberwort „Intermodalität“ bleiben auch anno 2018 ein dickes Brett: Wir blicken heute mehr denn je auf eine hochgradig fragmentierte, von proprietären IT-Lösungen geprägte Anbieterlandschaft, die vielfach noch nicht einmal standardisierte Programmierschnittstellen nach Marktstandard anbietet. Gerade der Anschluss von öffentlichem Nahverkehr gestaltet sich extrem schwierig.
An diesem Punkt setzen wir gegenwärtig mit unserem Venture Yilu an, das unter anderem die Vision eines anbieterübergreifenden Marktstandards für den digitalen Anschluss von Mobilitätsdienstleistern sowie anderen Serviceprovidern entlang der Reisekette verfolgt. Ungeachtet dieser Widrigkeiten ist eine intelligente und individualisierte Vernetzung der stetig wachsenden Mobilitätslandschaft angesichts des weltweiten Bevölkerungswachstums, der zunehmenden Urbanisierung sowie immer strengerer Umweltschutzmaßgaben absolut unabdingbar.
Interview: Johanna Wenninger-Muhr
Gleb Tritus ist Serienunternehmer, Business Angel und Innovator mit Leidenschaft für E-Commerce, Content-Marketing und Travel Tech. Als Geschäftsführer baute er die Suchmaschinen-Marketing-Agentur Affaires Media, die lokale Suchmaschine Townster sowie den Shopping-Club poshposh auf. Gemeinsam mit der ProSiebenSat.1-Gruppe startete Tritus 2013 die Ticketingplattform Todaytickets, die Live-Entertainment-Veranstaltungen über mobile Endgeräte vermarktet.
Derzeit treibt er die digitale Transformation des weltweit größten Luftfahrtkonzerns Lufthansa Group. Als Geschäftsführer des Lufthansa Innovation Hubs (LIH) wurde Tritus 2017 als „Deutschlands Top 40 unter 40 in Management“ sowie 2017 und 2018 als Kopf von „Deutschlands bestem Digital-Labor“ durch das Wirtschaftsmagazin Capital ausgezeichnet. Der in Berlin, Singapur und Shenzhen ansässige Lufthansa Innovation Hub validiert digitale Geschäftsmodelle und gestaltet strategische Partnerschaften mit Startups im Reise- und Mobilitätskontext. Als Mitgründer der Initiative, die u.a. für Lufthansa, SWISS, Austrian Airlines, Eurowings und Miles & More wirkt, schlägt Gleb Tritus die Brücke zwischen dem globalen Startup-Ökösystem und dem traditionsreichen Airline-Multi aus Deutschland.