Eine musikalische Reise quer durch Europa mit dem kanadischen Klaviervirtuosen Jan Lisiecki begeistert das Publikum beim Rheingau Musik Festival im voll besetzten Friedrich-von- Thiersch-Saal des Kurhauses in Wiesbaden.
Ein Bericht von Suse Rabel-Harbering
Ein geheimnisvoller Hornruf lockt die Zuhörer in das Reich des Elfenkönigs – eine Welt voller Poesie, in der sich italienische Brillanz und Poesie deutscher Romantik vereinen. Mit der Ouvertüre zur Oper „Oberon“ von Carl Maria von Weber, gespielt von den Münchner Philharmonikern unter der Leitung von Valery Gergiev wurde der Konzertabend stimmungsvoll eingeleitet.
Nach einem fast lautlosen Umbau der Bühne wird es still im prunkvollen Friedrich-von-Thiersch-Saal. So still, als könnte man eine Stecknadel fallen hören. Jan Lisiecke, der kanadische Klaviervirtuose beugt sich fast andächtig über die Tasten. Ein Ton erklingt, klar und rein. Schon gesellen sich Streichinstrumente dazu. Das Spiel beginnt. Oder ist es doch ein Dialog? Leise, wie von Zauberhand, übernimmt Jan Lisiecki die ausklingenden Streicherstimmen, verharrt fast andächtig bei kurzen Anschlägen, um wie ein Wirbelwind über die Tasten zu fegen. Mit Pauken und Trompeten verschmilzt harmonisch das Ganze.
Revolution auf leisen Füßen
Mit dem Klavierkonzert Nr. 4 G–Dur op. 58 von Ludwig van Beethoven beginnt im Jahr 1805/06 eine neue Ära der Solokonzerte. Manche sprechen von einer „Revolution auf leisen Füßen“. Romantiker wie Robert Schumann, Felix Mendelsohn und Frederic Chopin haben sich daran orientiert. Sie sind beeindruckt von dem Andante, dem langsamen Satz, den Robert Schuman als das „groß-geheimnisvolle Adagio“ bezeichnete. Denn Beethoven geht es nicht mehr um das Auftrumpfen der Solistenrolle, vielmehr wird das Gespräch gesucht mit dem Orchester. So lauschen die Zuhörer voller Neugierde der zauberhaften musikalischen Auseinandersetzung.
Der erst 22 Jahre alte Jan Lisiecki wurde als Sohn polnischer Einwanderer in Calgary/Kanada geboren. Er studiert seit seinem 5. Lebensjahr Klavier am Mount Royal University Conservatory und trat als Neunjähriger zum ersten Mal mit Orchester auf. Lisiecky hat schon zahlreiche, internationale Preise gewonnen; u.a. im Jahr 2013 den angesehenen Leonhard Bernstein Award.
Das Klavierkonzert, das von musikalischen Aufbrüchen erzählt, scheint wie geschaffen für den Klaviervirtuosen. Er bringe jede Note zum Sprechen, schreibt die New York Times.
Kaum ist der meisterhaften Auftritt beendet, bedankt sich der sympatische Klaviervirtuose auf Deutsch für den nicht enden wollenden Applaus und spielt als Zugabe eine „Nocturne“ von Frederic Chopin.
Nach der Pause folgt der Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“, den Modest Mussorgsky im Jahr 1874 komponierte. Inspiriert wurde der Komponist durch die Gedenkausstellung seines Malerfreundes Viktor Hartmann, dessen früher Tod bei Mussorgsky eine tiefe Lücke hinterläßt. In dem Zyklus flaniert ein „Ich-Erzähler“ durch die Galerie und betrachtet die gemälde, die Mussorksky zu 10 Bildern vertont: „Das alte Schloss“, „Die Tuillerien – spielende Kinder im Streit“, „Ballet der Küken in ihren Eierschalen“, „Der Marktplatz von Limoges – Die große Neuigkeit“ oder „Das große Tor von Kiew“.
Erst 50 Jahre später wird der Klavierzyklus 1922 von Maurice Ravel orchestriert und erlangt dadurch Weltberühmtheit. Zuvor hat er sich lange mit der Klaviervorlage von Mussorksky auseinander gesetzt, schließlich doch etwas ganz Eigenständiges geschaffen. Zu Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts besteht in Frankreich eine enge Verbindung zur russischen Kultur. Künstler wie Sergei Djagilew mit seinen „Ballets Russes“ oder Igor Strawinski entfesseln Begeisterung beim Pariser Publikum.
So auch bei den Zuhörern des Rheingau Musik Festival in Wiesbaden. Mit Fanfarenklängen, mit Pauken und Trompeten, mit Glöckchen und Trommeln setzt das Orchester voll ein – ganz nach „Ravelscher Manier“. Doch dann wird es, den Bildern entsprechend, wieder ruhig und melancholisch. Auch das ist Ravel und auch die russische Musik. Die Orchestrierung lebt von faszinierenden Kontrasten, die die Münchner Philharmoniker akzentuiert zum Ausdruck bringen. Das Publikum ist berauscht von dem bunten Reigen und bedankt sich mit langem Applaus.