Kann man die Zukunft voraussehen? Diese Frage, so alt wie die Menschheit selbst, ist wahrscheinlich niemals abschließend zu beantworten. Wenn alles Kommende genau voraussagbar wäre, existierte weder Wirtschaft noch Geist noch Evolution. Zukunftsforscher Matthias Horx sieht den Beginn einer neuem Ära der Prognostik.
Die neue Zukunftsforschung habe gelernt, mit unterschiedlichen Ebenen des Prognostizierbaren umzugehen. Teilsysteme der Welt ließen sich jeweils mit anderen Methoden und Modellen beschreiben und prognostizieren, wobei man zuallererst die Prognose von Systemen einerseits und Endergebnissen andererseits unterscheiden müsse.
The Future never comes
In Sachen Zukunft gehe es immer auch um die Psychologie des Erkennens. Zukunft bleibe eine Projektion in unserem Kopf, eine Fiktion, die aufs Komplizierteste mit Projektionen, Erwartungen, tiefen Ängsten und heroischen Hoffnungen zu tun habe.
Dennoch habe die Vision einer exakten Zukunftswissenschaft eine lange Tradition. Über dem Eingangstor des Orakels von Delphi stand als Motto: „Gnothi Seauton“ (dt.: Erkenne dich selbst). Schon die Priester der Antike hätten etwas von jenem Spiegelungsprozess, in dem wir uns in der Beschäftigung mit der Zukunft immer wieder nur selbst erblicken, verstanden.
Moderne Prognostik, so Horx, müsse diese Rekursion verstehen und mit ihr bewusst umgehen. Darüber hinaus biete die Zukunftswissenschaft neuartige Zugänge zu Teildisziplinen der System- und Evolutionswissenschaften, der Probabilistik, Stochastik und Kognitionswissenschaft. Den alten Spruch von Karl Valentin, dass die Zukunft auch nicht mehr das ist, was sie einmal war, könne man auch umdrehen: Zukunftsforschung sei noch nie so spannend wie heute gewesen – wenn man sich auf ihre Zumutungen einlasse.
Heute gebe das Internet der Zukunftsforschung völlig neue professionelle Instrumente der Datenerhebung in die Hand. Tools wie Google Trends machten die Verfolgung von Begriffen möglich, die auf gesellschaftliche Aufmerksamkeiten hinweisen. Infographische Systeme mit massiver Datenbasis, wie das von Hans Rosling geschaffene „Gapminder“ (www.gapminder.org), ermöglichten eine unglaubliche Tiefe von Information über weltweite Wohlstandsprozesse. In der Medizin spiele die Daten-Generierung heute eine ebenso große Rolle in der Diagnose wie ein Medikament.
Mit massivem Dateneinsatz ließen sich heute Wirtschaftskrisen voraussagen. Wobei das Paradox bleibe, dass, wenn die Warnungen erst genommen würden, das Ereignis verhindert werden müsste – und damit die Prognose falsifizierte. Dennoch ist der Computer allein nicht der Zukunftsweisheit letzter Schluss.
Von linearem Denken zu komplexen Evolutions-Modellen
Eine der bis heute in der Öffentlichkeit erfolgreichsten Prognose-Institutionen sei der Club of Rome. Die Werke von Meadows und seinem Team prägren seit den 70er Jahren die Zukunftsdebatte, die (falschen) Modelle des Clubs sind bis heute Grundlage vieler Angstdiskurse über die Zukunft.
Hinter dem Club-of-Rome-Denken stehe das sogenannte „Welt-3-Modell“. Eine Art Simulationsmaschine, die unter der Maßgabe verschiedener Parameter verschiedene Zukunftsszenarien ausspuckt. Allerdings wären so gut wie alle Ergebnisse, egal mit welchen Daten man sie rechnete, katastrophal. Der Zusammenbruch der Weltbevölkerung, die finale Verseuchung der Biosphäre, die Weltwirtschaftskrise mit Milliarden Hungertoten seien in diesem Modell so gut wie zwangsläufig. Schon im Jahr 1973, direkt im Erscheinungsjahr der „Grenzen des Wachstums“, seien deshalb mehrere Studien erschienen , die das Meadows-Modell massiv kritisierten. In „Models of Doom“ hätten Christopher Freeman und Marie Jahoda nachgewiesen, dass das Club-Of-Rome-Modell von handwerklichen Fehlern nur so wimmelte. Die Hauptfaktoren, mit denen das „Welt-3-Modell“ rechne – Bevölkerungszahl, Kapitalinvestition, geographischer Raum, natürliche Ressourcen, Umweltverschmutzung – würden als fixe Größen dargestellt. und untereinander verknüpft.
Die heutige Zukunftsforschung baue ihre Modelle eher auf spieltheoretischen oder evolutionären Parametern auf. Sie misstraue aus Erfahrung den mechanischen Formeln großer Weltmodelle.
Von Utopie zu Dystopie
Die Zukunftsforschung bis zur Jahrtausendwende war, so Horx, vor allem durch zwei große Denkschulen geprägt. Einerseits der amerikanisch beeinflusste technologische „Futurismus“, der in den 60er Jahren eine ganze (Jungen-)Generation prägte. Zukunft war gleichgesetzt mit technologischer Erlösung – es sei um Weltraumträume, Allmachts-Visionen und „futuristische“ Umgebungen gegangen. In den späten 70er Jahren hätte sich jedoch eine mächtige Gegen-Erzählung entwickelt: Die Zukunft als Bedrohungsraum. Robert Jungk stehe wie kein anderer für diese dystopische Dimension des Kommenden. „Zukunftsforschung“ sei nun zum moralischen Appell geworden, bei dem es um „Umkehr“ und „Beschränkung“ ging, um Protest, Widerstand und Verlangsamung – und mehr und mehr um ausschließlich moralische Argumentationen.
Die Spaltung des Zukunftsdiskurses in einen technisch-naiven Utopismus und einen fundamentalen Zivilisationspessimismus halte bis heute an und spiegle sich in der öffentlichen Meinung und der Verkürzung der Zukunftsdebatte auf einen Glaubensstreit: „Optimismus gegen Pessimismus“.
Die neuen Prognostiker entzögen sich dieser Polarität. Sie agierten als „Possibilisten“. Systemische Prognostik richte ihre Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Technik, Ökonomie und Ressourcen. Ihre Denkweisen, Modelle und Methoden gäben n der Zukunft wieder einen Raum im Realen – weitab von den ideologischen Konzepten der Vergangenheit.
Future Errors: Die Rolle der Kognitionspsychologie
In den letzten Jahren beschäftige sich auch die Psychologie mit der Frage der Zukunft. So untersuche der Psychologe Philip Zimbardo die unterschiedlichen Erwartungsmentalitäten von Individuen und Kulturen. Er unterscheide zwischen positiv-zukunftsorientierten und negativ-vergangenheitsorientierten Charakteren und Mentalitäten und entwickele daraus einen „Zeitperspektiven“-Test.
Die Kognitionspsychologie spreche zum Beispiel von: Confirmation Bias: Die Modelle in unserem Kopf seien von einem tiefen Bedürfnis nach Kohärenz geprägt. Wir suchten nach stimmigen Erklärungsmodellen immer im Sinne von Kausalitäten, die uns die Macht (oder Illusion) der Manipulation gebe. Sei ein solches Kohärenzmodell einmal etabliert, filterten wir Informationen und Wahrnehmungen, die ihm widersprechen, konsequent aus. Der Apokalyptiker fände deshalb überall immer nur Beweise für den Untergang, der Technik-Euphoriker immer nur für die Lösbarkeit aller Probleme durch Technik.
Anders ist es beim Availability Bias: Wenn wir Ereignisse oder Prozesse einordnen, würden wir auf einen kollektiven Bildspeicher zurückgreifen , der von starken Emotionen geprägt sei. So wie sich jeder an den spezifischen Moment erinnere, als am 11. September die Al-Quaida-Flugzeuge in das World Trade Center flogen, sei unser Erinnerungsvermögen durch symbolische, meist furchterregende Bilder geprägt. Wir sähen immer mit den Augen einer drastischen Vergangenheit in die Zukunft. Oder, wie der Kognitionspsychologe Daniel Kahnemann formuliere: „We think of our future as anticipated memories.“
Von Mode- zu Megatrends
Wie „entstehen“ Trends, wer oder was „macht“ sie? Die Trendforschung der letzten Jahrzehnte habe überwiegend mit narrativen, poetischen Methoden gearbeitet. Ursprünglich als beobachtende Sozialforschung gestartet, hätte sie sich von ihren Geldgebern in die Pflicht nehmen lassen.
Und zu denen hätten vor allem Werbeagenturen und Marketingabteilungen großer Firmen. gehört.
Trendforschung, die sich primär an der Werbe- und Marketingwelt orientiere, werde prinzipiell korrupt. Mit Wörtern wie „Wellness“ und „Cocooning“ könne man wunderbar Absatzförderung betreiben. Die Konsumindustrie hätte sich sich mithilfe von Trendforschern eine Welt gebaut, in der es von schönen Innovationen und fröhlichen Konsumenten nur so wimmelte. Trendforschung der neuen Art müsse sich aus dem Dunstkreis des Marketing entfernen.
Sie benötigeEmpirie: Ihre Annahmen müssten sich in der Wirklichkeit messen und erfassen lassen. Trendforschung brauche Wissen um Rekursion: Die wichtigsten und stärksten Trends seien nicht selten Retro-Trends, in denen eben nicht immer nur das Neue, sondern das aus Alt und Neu Rekombinierte entstehe. Trenderkennung brauche mehr Bewusstsein für Interdependenzen: Trends bedingten und beeinflussten einander, und die Weise, in der sie das tun würden, könnte man nur mithilfe eines validen sozio-ökonomisches Modells verstehen. Im Kern gehe es deshalb immer wieder um die Mega-Trends – jene soziokulturellen und ökonomischen Struktur-Veränderungen, die sich über Jahrzehnte beobachten und verfolgen ließen, und die die Welt nicht in einer Saison, sondern „nachhaltig“ veränderten.
Die neu entdeckte Rolle des Zufalls
Nassim Taleb, der mit seinem Buch über die „Schwarzen Schwäne“ von sich reden machte, sei heute das Enfant terrible der Prognostik-Szene. Ein produktiver Provokateur, der die richtigen Fragen stelle. Ist nicht, so die grundlegende Fragestellung in seinem neuen Buch „Antifragilität“, jeder Versuch, die Zukunft zu prognostizieren, im tiefsten Sinne kontraproduktiv?
Je mehr wir versuchten, die Zukunft „vorauszusehen“, so Taleb , desto wahrscheinlicher scheitern wir. Unternehmen, die eine große Prognose-Abteilung unterhalten, wiegen sich in falschen Sicherheiten und lügen sich selbst in die Tasche. Je mehr wir versuchen, unser persönliches Leben mithilfe von Prognosen (etwa in der Partner- oder Berufssuche) perfekt zu planen, desto schneller geraten wir in die existentielle Krise. Zufall gehört zum Zukunftsprozess unweigerlich dazu, und wenn wir ihn negieren, verlieren wir unsere Anpassungsfähigkeit, unsere Evolutionskomptetenz.
Wir werden „fragil“, wenn wir uns nicht mehr überraschen lassen wollen. Das bedeute auch für einen der Ur-Begriffe der Zukunftsforschung einen radikalen Bedeutungswandel: Vision.
Visionen könnten einen Tunnelblick erzeugen, durch den ein Unternehmen (ein Individuum, eine Gesellschaft) in eine scheinbar deterministische Zukunft schaue. Helmut Schmidts Bonmot, „Wer Visionen hat, sollte lieber zum Arzt gehen“, sei in dieser Betrachtung gar nicht so unklug. Schlechte Zukunftsprognostik könne Firmen dazu bringen, das eigene Geschäftsmodell einzuengen. Statt innovativ und adaptiv werde das Unternehmen „zukunftsstarr“– wie zahlreiche Beispiele von Banken, Autofirmen und Weltkonzernen aus Vor-Krisen-Zeiten belegten.
Es gehe in der neuen Prognostik um eine neue Bewertung von Unsicherheit.
Zukunftsfähige Unternehmen verfügten über „robuste Fragilität“. Sie öffneten sich dem Fluss der Zeit, indem sie ständig neue Fragen an sich und ihre Kunden stellten. Wer sind wir, und wo wollen wir hin? Ist das, was wir bislang dachten, auch morgen noch richtig? Was wäre, wenn die Welt uns nicht mehr brauchte –und sollten wir womöglich gerade daran arbeiten (und uns darin neu erfinden)?
Von Science-Fiction zu Neuer Reflexivität
Vor einigen Jahren hätte der Erfinder des Cyberspace, der Romanautor William Gibson, beschlossen, keine Science-Fiction-Romane mehr zu schreiben. Seine Begründung lautete : „Es geht nicht darum, dass die Zukunft nicht mehr spannend genug wäre, sondern darum, dass die Gegenwart um so vieles spannender ist. Die Zukunft vorherzusagen ist zu einer akademischen Aufgabe geworden. Viel dringender scheint es mir, die Gegenwart vorherzusagen.
Heute passiere viel zu viel, als dass man noch normale Science-Fiction schreiben könnte.“ Vor der Zukunftsforschung liege ein Paradigmenwandel.
Man könnte mit den richtigen Mitteln und Modellen tatsächlich immer mehr vorhersagen. Aber je komplexer und lebensnäher prognostische Modelle würden , desto deutlicher werde auch das eigentliche Zukunfts-Paradox: Zukunft könne nicht vollkommen vorherbestimmt sein, weil sie durch evolutionäre, nicht durch kausal-mechanische Prozesse bestimmt sei. Evolution sei ergebnisoffen und pfadabhängig, aber sie sei nicht deterministisch.
Man könne Evolution nicht voraussagen, aber sich auf sie verlassen und ihre Wege als Selbst-Organisation verstehen. Damit müssten sich die Modelle und Methoden der Zukunftsforschung radikal verändern. Die wichtigste Aufgabe der Prognostik sei in Zukunft produktive Irritation. Es gehe darum, die linearen Standard-Modelle der Welt, die in den Köpfen von Politikern, Managern und Meinungsbildnern herrschten, mit den Mittel komplexer Modellbildung herauszufordern.
Es gehe um ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge, der Vernetzungen, in denen Wandel und Zukunft entstehe. In diesem Sinne nähere sich die neue Zukunftswissenschaft wieder der Philosophie an. Sie werde „mentaler“ und mathematischer gleichzeitig, psychologischer und diskursiver – von einer Illusions-Magie zu einer reflexiven Disziplin des Wandels. Sei sie früher ein Fernrohr gewesen, durch das man eher zum Vergnügen hindurchschaute, werde sie heute ein Spiegel, in dem man sich selbst erkennen könnte.
www.zukunftsinstitut.de